Sonntag, 16. September 2012

15.9.12 Von der Lindauer Hütte aus durch den Rachen zur Sulzfluh, hinunter durchs Gemschtobel und zurück nach St. Antönien; 20 km; 1.400 Hm (Nachtrag)

Kurz vor acht Uhr brechen wir von der Lindauer Hütte auf. Die Nacht im Matratzenlager war okay, das Frühstück war gut. Mit zügigem Höhengewinn steigen wir zur Sulzfluh Richtung „Rachen“ auf. Diesen Weg wollten wir ursprünglich hinunter gehen. Wir haben kaum einen Gedanken daran verschwendet, ob wir uns diese Strecke zutrauen: wir probieren es einfach. Notfalls bliebe ja noch der Weg über Bilkengrat/Tilisunahütte/Gruobenpass als Alternative. Blau-weiß markiert ist unser Weg (in den Schweizer Alpen heißt das anspruchsvoll) und während wir aufsteigen, spüren wir bereits, dass er uns fordern wird: Immer wieder Steilstufen mit leichten Kletterstellen, die es zu überwinden gilt. Ich muss mich oft ziemlich hinauf stemmen! Aber der Weg über den Bilkengrat ist, wie wir wissen, auch kein Spaziergang, und deshalb folgen wir zuversichtlich unserer Markierung. Als wir die Krummholzzone hinter uns lassen, werden wir überholt: eine Familie steuert den Höhlen-Klettersteig an; ein jüngeres Paar geht an uns vorbei, ebenfalls mit dem Ziel „Sulzfluh-Rachen“. Während wir noch rasten, steigen die beiden kontinuierlich bergauf. Wo sie entlang gehen, können wir uns eine weitere Tour kaum vorstellen: in einem gewaltigen, von Schnee und Eis bedeckten Kar geht es aufwärts; der Verlauf des Weges ist nur anfangs zu ahnen. So ein versäumter Gipfel wirkt – gerade bei Wetterbesserung – länger und intensiver nach, als man es sich selbst eingesteht. Wie oft haben wir uns in den vergangenen Monaten mit der Sulzfluh beschäftigt und uns auf den Gipfel gefreut! Freilich ist uns klar, dass man in den Bergen flexibel auf Wetterveränderungen reagieren muss – aber das tun wir heute. Unser ursprünglicher Plan war, von Partnun aus über das Gemschtobel zur Sulzfluh zu gehen, von dort aus weiter zur Tilisuna-Hütte und nach der Hüttenübernachtung über Drusator (eventuell mit Abstecher zu den Türmen) zurück nach Partnun/St.Antönien zurückzukehren. Der modifizierte Plan hieß: Aufstieg zur Tilisunahütte, am nächsten Tag von dort aus zur Sulzfluh, über den Rachen zur Lindauer Hütte absteigen und über das Drusator zurück nach Partnun/St. Antönien. Der nochmals geänderte Plan hieß: Aufstieg von der Lindauer Hütte aus durch den Rachen zur Sulzfluh und über das Gemschtobel nach Partnun. Obwohl es am Morgen noch etwas bewölkt war, sollte sich die Sonne durchsetzen – und dass der Schnee sich weiter oben hartnäckig halten würde, war von der Lindauer Hütte aus nicht zu sehen. Dass die beiden jungen und bergerfahrenen Leute wissen, was sie beim Aufstieg tun, ist offensichtlich. Wir haben nur die Alternative, ins Tal zurück zu gehen, oder den beiden zu folgen. Wir entscheiden uns für Letzteres: der Sulzfluhgipfel lockte einfach zu sehr, um jetzt schon aufzugeben. Zunächst geht es in Kehren noch relativ „normal“ weiter: wir halten uns genau in den Spuren unserer Vorsteiger. Während wir aufsteigen, fällt mir ein, dass wir bisher nur zwei blau-weiß markierte Steige gegangen sind, wenn man den gestrigen unmarkierten Steig einrechnet, zweieinhalb. Und uns wird allmählich klar, auf was wir uns gerade einlassen. Der Aufstieg wird zusehends steiler. Die Beiden vor uns klettern langsam und vorsichtig über einen vereisten Felsvorsprung. (Später erzählen sie uns, dass der Weg eigentlich rechts von den Felsen nach oben verläuft, sie sich aber auf Grund der Witterung für den Umweg entschieden haben.) Wir folgen ihren Spuren und klettern ebenso über die Felsen: ich verstaue zuvor meine Stöcke am Rucksack und ziehe meine Handschuhe an. Nun ist es zu spät zum Umkehren: in Schnee und Eis geht es steil nach oben. Unsere einzige Orientierungsmöglichkeit sind die Fußspuren der beiden Vorsteiger, Wegmarkierungen sind nicht mehr zu sehen. Man muss aufpassen, ob die Spuren auch „tragen“, ebenso vorsichtig muss man den Halt der Teleskopstöcke im Schnee prüfen, ehe man weiter geht. Für uns ist das ein sehr fordernder Weg – durchaus grenzwertig. Hätten wir gewusst, was uns bevorsteht… aber auf Grund unserer Unerfahrenheit wussten wir es eben nicht. Bei gutem Wetter, hören wir später, soll der Weg gut und leicht begehbar sein – aber dass Schwierigkeiten im Auge des Betrachters liegen, wissen wir nicht erst seit heute. Endlich gehen die beiden nach links, wo weniger Schnee liegt. Aber zunächst kommen noch ein paar kleine Kletterstellen, die es zu meistern gilt. Ohne Schnee und Eis wäre das sicher etwas einfacher, aber heute müssen wir uns konzentrieren. Dann wird der Weg wirklich besser, wir können uns an die felsigen Passagen halten und kommen die letzten Meter etwas zügiger nach oben an das Ende des Kars. Nun erst einmal: durchatmen und fotografieren! Unser blau-weiß markierter Steig führt noch eine ganze Weile weiter bergauf, ist nun aber besser zu begehen. Wir halten uns weiterhin an die Stellen, wo Felsen sichtbar sind, und gehen nur dort im Schnee, wo es gut aussieht und bereits gespurt ist. Nach einer Weile treffen wir den rot-weiß markierten Weg, der von der Tilisunahütte hinauf führt, und sehen auch schon die Leute, die durch das Gemschtobel von Partnun aus heraufkommen. Der Weg sieht auch nicht gerade einladend aus – aber erst einmal lockt der Gipfel der Sulzfluh. Zuvor müssen wir etwas essen: in den Bergen spürt man meist deutlich, wenn der Körper Kalorien braucht. Außer uns sind hier viele Leute auf dem Weg nach oben; die Sulzfluh gilt als einer der schönsten und auch leichtesten Rätikongipfel. Das junge Paar, das für uns im Rachen gespurt hat, kommt vom Gipfel herunter. So haben wir Gelegenheit, uns für das Vorsteigen zu bedanken. Sie kennen den Weg und normalerweise, meinen sie, sei er auch im Winter nicht schlimm. Nun ja, das ist Ansichts- und gewiss auch Erfahrungssache. Vorübergehend war der Sulzfluhgipfel (2.818 m) in den Wolken, nun ist er wieder frei und wir machen uns auf den Weg nach oben. An einigen Stellen ist es noch sehr glatt und man muss die Hände zu Hilfe nehmen. Das letzte Stückchen hinauf, das auf Videos sehr ausgesetzt aussieht, ist aber problemlos zu gehen, und wir finden auch den Gipfel geräumig genug. Außer uns sind zwei größere Gruppen von Wanderern oben. Nach den obligatorischen Fotos machen wir uns gleich wieder auf den Weg nach unten. Es ist 12.25 Uhr – kurz vor acht sind wir heute losgegangen. Obwohl der Abstieg immer etwas schwieriger ist, kommen wir gut zum rot-weißen Abzweig nach Partnun durch das Gemschtobel. Der Weg wird stellenweise sehr steil und felsig, und teilweise weichen wir von den Markierungen ab, weil es dort schon sehr ausgetreten und rutschig aussieht. Zwischendurch gibt es aber immer wieder gut begehbare und wenig steile Abschnitte. Wir stellen fest: die Übergänge zwischen rot-weiß und blau-weiß sind fließend. Leicht ist dieser Weg auch nicht, zumindest nicht bei Schnee und Eis. Bald können wir Partnun und den Partnunsee unten im Tal sehen. Als wir fast unten sind, kommt die drahtseilgesicherte Schlüsselstelle durch das Gemschtobel. Ich hatte mich wirklich darauf gefreut, und mit frischen Kräften wäre es gewiss ein Vergnügen gewesen, hier hinaufzusteigen. Nun spüre ich aber die Anstrengung der Tour und bin froh, als wir unten ankommen. Nun nur noch die Straße zurück nach Partnun … aber dass die größte Anstrengung noch vor uns liegen würde, wusste ich glücklicherweise nicht. Wir wollen das Grundstück mit dem aggressiven Hund möglichst meiden und deswegen auf einen Höhenweg nach St. Antönien treffen, den wir im vorigen Jahr von der Carschina-Hütte aus gegangen sind. Es geht schön auf der Höhe weiter und deshalb sind wir zuversichtlich und steigen nicht zur Straße ab. Für mich steht allerdings fest, dass ich nicht mehr bis zur Hütte gehen will: das ist einfach zu weit. Später erkennen wir, dass wir keine Wahl mehr haben: der Weg, auf dem wir uns befinden, führt direkt zur Hütte; daneben ist das Gelände unwegsam. Wir müssen, ob wir wollen oder nicht, bis zur Carschinahütte gehen. Al s wir endlich dort ankommen, bin ich zu erledigt, um die Wegweiser zu studieren und Entscheidungen zu treffen, und gehe meinem Mann hinterher. Unser Weg führt, wie ich bald sehe, nicht auf der Höhe entlang, sondern in einem weiten Bogen hinunter ins Tal: er hat sich entschlossen, die kürzere Variante zu wählen. Allerdings bringt uns diese kaum vorwärts, sondern nur in Serpentinen nach unten, und als ob das noch nicht an Unannehmlichkeiten genügt, kommen wir genau an dem Hof mit dem aggressiven Hund heraus. Glücklicherweise ist er heute nicht da oder unaufmerksam – aufatmend gehen wir hinunter zur Straße. Nun geht es weiter hinunter bis St. Antönien Rüti. Die letzte kurze Rast hatten wir kurz vor dem Gipfel der Sulzfluh gemacht, auf dem letzten Wegstück esse ich eher aus Vernunft einen Müsliriegel, ohne dabei anzuhalten. So flott wir können, legen wir das Stück bis zur Bushaltestelle zurück. Dort allerdings hätte ich ohne eine Pause nicht mehr weitergehen können. Tatsächlich erwischen wir noch den 17-Uhr-Bus nach Küblis, mit dem wir den letzten durchgehenden Zug nach Davos erreichen. Laut Zeitangabe auf den Wegweisern hätten wir es nicht mehr geschafft. Trotzdem bin ich keinesfalls stolz auf diese letzte Wegetappe, die ich mehr automatisch als bewusst zurückgelegt habe. Ich hätte diese wunderschöne Landschaft zum Abschied gern noch genossen. Der psychisch wie körperlich anstrengenden Gipfeltour hätte ein ruhiger Ausklang folgen sollen. Aber man lernt aus solchen Erlebnissen, und auch mit Schnee und Eis werden wir künftig respektvoller umgehen, vor allem, wenn das Gelände anspruchsvoller ist. Bis nach Davos sind wir noch zwei Stunden unterwegs, und auf dem Rückweg erhole ich mich so weit, dass ich mir vorstellen kann, am nächsten Tag wieder eine – wenn auch kürzere – Wanderung zu unternehmen.

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