Es gibt etwas, das die nächtlichen Dämonen schnell vertreiben kann: ein morgendlicher Blick aus dem Fenster auf einen Berg, dessen Gipfel in den ersten Sonnenstrahlen glüht. Es ist der Kramer, den wir von unserem Balkon aus sehen können, einer der höheren Hausberge von Garmisch. Schon im vergangenen Sommer wollten wir ihn gern besteigen, sind aber am vorgesehenen Tag zu spät aufgebrochen. Und heute fürchte ich, dass es uns wieder so ergeht. Wir verlassen gegen neun Uhr das Haus, eigentlich wie üblich. Aber es ist heute nicht mein Tag und ich bin besorgter als sonst, dass die Zeit nicht ausreicht, um den Gipfel zu schaffen. Es ist ja wieder ein Berg, auf den keine Seilbahn fährt, mit der man notfalls abkürzen kann, und das bedeutet: circa vier Stunden reine Gehzeit hinauf und so ähnlich auch wieder hinunter. Mir fehlt die Energie, dieses Gefühl „das wird schon“. Als wir Richtung Kramer gehen, ruft uns eine ältere Frau zu, ob wir zum Gipfel wollen. „Wenn wir es schaffen“, antworte ich, heute nicht sonderlich optimistisch.
„Das schaffen Sie!“, sagt sie und irgendwie freuen wir uns darüber. Wir gehen wieder hinauf zum Kramerplateauweg, der hervorragend zum Spazierengehen, Joggen oder Nordic Walking geeignet ist. Man kann hier direkt den Kramersteig bergauf nehmen, der aber im Wanderführer als Abstieg empfohlen wird. Nachdem wir weiter Richtung Grainau gegangen sind, kommen wir an den nächsten Aufstieg zur Stepbergalm und zum Kramer, den Kreuzweg. Da wir dort im vergangenen Jahr schon hinauf gegangen sind und dies als sehr mühsam empfanden, gehen wir weiter bis zum Gelb-Gwänd-Steig, der an der nächsten Kreuzung abzweigt, wo wir gestern auch von Grainau aus heraufgekommen sind. Unserer Meinung nach ist dieser Steig sehr viel besser für den Aufstieg geeignet. Er steigt relativ gleichmäßig an, ohne wieder an Höhe zu verlieren – was beim Kreuzweg öfter der Fall ist, und führt auch so direkt wie möglich zur Stepbergalm. Gegen 11.40 Uhr sind wir oben und freuen uns, dass es relativ gut und zügig ging.
Wie wir bereits gestern gelesen haben, ist die Stepbergalm noch bewirtschaftet und wir machen eine kurze Rast mit kühlen Getränken. Das Wetter ist traumhaft: der Himmel ist ganz klar und blau, nur vereinzelt steigt noch Dunst aus den Tälern auf. Ganz deutlich sind Zugspitze, Alpspitze und die Wettersteinwand zu sehen, an einigen schattigen Stellen mit Schnee überzuckert. Darunter der Wald, der sich bereits herbstlich färbt – ein wunderschöner Anblick!
Unsere Pause dauert nicht sehr lange – wir fühlen uns immer noch ein wenig unter Zeitdruck. Der Kramersteig beginnt oberhalb der Stepbergalm. Es geht relativ direkt und zeitweise auch recht steil nach oben, zunächst über Wiesen, dann durch Latschen, wo mehr Geröll liegt. Von einem Aussichtspunkt an führt der Weg eine Weile an einem Bergrücken entlang, ohne dass es nennenswert bergauf geht. Am Ende wird es steiler und man kann auch den Gipfel sehen. Zunächst wirkt er auf mich ziemlich ausgesetzt und ich weiß nicht, ob ich dort hinauf möchte. Bei solchen Überlegungen hilft am besten der Vorsatz: gehen, solange man es sich zutraut, und notfalls umkehren, auch wenn man das ungern tut. An einigen abschüssigen und etwas ausgesetzten Stellen bin ich ängstlicher als sonst. In dieser Hinsicht kann die Tagesform enorme Unterschiede bewirken.
Aber ein paar Seilsicherungen helfen über die steilsten Abschnitte hinauf. Gegen 13 Uhr sind wir auf dem Gipfel - mit uns einige andere Wanderer, und alle genießen die traumhafte Aussicht. Da hat der Wanderführer wahrlich nicht übertrieben: der Kramer (1.985 m) ist ein wunderbarer Aussichtsgipfel! Man kann den Kramersteig weiter bis hinunter nach Garmisch gehen, aber da er laut Wanderführer stellenweise schlechter sein soll als unser Aufstieg, entscheiden wir uns, wieder zur Stepbergalm abzusteigen. Ich habe keine Lust auf Experimente, ob der Steig möglicherweise zu steil, zu ausgesetzt und zu bröselig ist … außerdem sind meine Beinmuskeln beleidigt, die sich erst gestern früh einigermaßen von unserer langen Tour zur Arnspitze erholt hatten und tagsüber schon wieder strapaziert worden waren. Ein sehr gewichtiger Grund, diesen Weg zu wählen, ist aber auch die Möglichkeit, an der Stepbergalm Kaffeepause zu machen.
Ich bin sehr froh, meine Stöcke dabei zu haben! So ist der Abstieg nicht ganz so strapaziös. Mir fehlen tatsächlich die längeren Vorbereitungstouren, die wir in diesem Jahr aus verschiedenen Gründen nicht machen konnten. Ein wenig fühlte ich mich wie eine Oma – die ich ja tatsächlich auch bin. An der Stepbergalm genießen wir Kaffee und frischen Apfelstrudel: beides ist vorzüglich, ebenso wie die Aussicht von der Terrasse auf Zugspitze und Alpspitze. Nachdem wir uns gestärkt haben, gehen wir den Kreuzweg hinunter. Dieser Weg hat auch unseren Söhnen sehr zu schaffen gemacht. Wir stellen wieder fest, dass er deutlich anstrengender zu gehen und weitaus öfter in der Sonne ist als der Gelb-Gwänd-Steig. Wunderschön ist das intensive herbstliche Licht, das die Berge ringsum erleuchtet. Nach reichlich acht Stunden sind wir wieder in Garmisch, sind 21 Kilometer gewandert bei 1.641 Höhenmetern Anstieg und 1.687 Höhenmetern Abstieg.
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