Genau so schön, wie die Berge bei Sonnenuntergang waren,
wirkten sie auch am Morgen. Es war beeindruckend, auf über 2.200 Metern Höhe
aufzuwachen und durchs Fenster über die Gipfel zu schauen! Im Matratzenlager
war es warm und gemütlich, geschlafen haben wir allerdings weniger gut. Man
schläft meist nicht besonders gut in Berghütten. Kurz vor acht Uhr, nach dem
Frühstück, starteten wir Richtung Sulzfluhgipfel. Die Zeit war mit zwei Stunden
von der Hütte aus angegeben – beinahe ein Spaziergang! Es ging anfangs doch
recht steil bergauf. Die Sicht war bald überwältigend: man sah die weißen
Gipfel der Berninagruppe, die markanten, vergletscherten Silvretta-Riesen und
auch die Berge um Davos, die wir größtenteils gut kennen. Die Aussicht wurde
immer grandioser, umso höher wir gelangten. Wir gingen ein ganzes Stück beinahe
ohne Höhengewinn, dann stieg der Weg nochmal an. Die Sulzfluh (2.818 m) gilt
als der am leichtesten zu besteigende Rätikongipfel, aber man sollte sie
keinesfalls unterschätzen. Aus dem Tal gelangt man auf den Gipfel besser mit
einer Zwischenübernachtung, und gutes Wetter ist ebenfalls vonnöten. Drei Wege
und zwei Klettersteige führen hinauf. Der Weg von der Tilisuna-Hütte aus ist
für einigermaßen trittsichere und konditionierte Wanderer problemlos zu
schaffen, und er ist auch eine richtige Genießer-Tour. Wir gingen über das
weite, leicht ansteigende Sulzfluh-Plateau, das ich mir so oft auf Videos
angesehen habe, und waren gegen 10 Uhr auf dem Gipfel. Es war noch
ausgesprochen ruhig und beschaulich dort oben. Im vergangenen Jahr waren wir
erst mittags dort und trotz der Schneelage waren unentwegt Menschen auf dem Weg
nach oben. Nun hatten wir also ideale Verhältnisse erwischt für eine gemütliche
Gipfelrast. Keine Wolke war am Himmel, wir hatten wundervolle Aussicht nach
allen Seiten. Dann machten wir uns an den Abstieg. Wir hätten natürlich wieder
zur Tilisunahütte zurückgehen, Pause machen und über den Bilkengrat –ebenfalls
ein sehr attraktiver Weg, rot-weiß – zur
Lindauer Hütte gehen können, aber wir kannten nun einmal den direkten Weg nach
unten durch den Rachen (blau-weiß) und es ergab sich, dass wir ihn auch dieses Mal
ansteuerten. Mit uns waren noch ein Paar und eine dreiköpfige Familie dort
unterwegs. Sieht man von oben aus in den Rachen hinunter, wirkt der Weg noch
etwas bedrohlicher als von unten nach oben. Bei Schnee allerdings sollte man
ihn eher meiden – oder gut kennen. Vor einem Jahr sind wir ihn ganz naiv
gegangen und hatten das Glück, zwei erfahrene Bergsteiger vor uns zu haben,
denen wir folgen konnten. Damals hatte es über Nacht geschneit und wir konnten
die Markierungen nicht sehen. Nun trauten wir uns zu, den Weg langsam und
vorsichtig hinunter zu gehen. An manchen (leichten) Kletterstellen mussten wir
uns unseren Weg suchen, teilweise war es steil, teils ging es in feinem Geröll
bergab. Erstmals bin ich in diesem feinen Schotter stellenweise „abgefahren“ wie
auf Skiern, nur fühlt man sich mit Bergschuhen sehr viel sicherer. Der Weg
durch den Rachen ist dennoch fordernd, weil sehr steil. Kommt man auf dem
ebenen Stück an, wo auch der Weg zum Klettersteig „Gauablickhöhle“ abzweigt,
ist man noch lange nicht im Tal angelangt. Auch der folgende Abstieg erfordert
Aufmerksamkeit und kostet Kraft, weil etliche steilere Felsabschnitte
überwunden werden müssen. Aber wir sind doch viel schneller als erwartet
vorangekommen. Ich hatte damit gerechnet, dass wir gegen 16 Uhr an der Lindauer
Hütte (1.744 m) ankommen würden, aber wir waren bereits 14.15 Uhr dort.
Zunächst hatte ich das Gefühl, nicht mehr weiter gehen zu können, aber nach
einer Pause im Schatten und einer Stärkung entschlossen wir uns, nicht wie
geplant in der Hütte zu übernachten, sondern noch bis nach Latschau
weiterzugehen, wo der Ortsbus nach Tschagguns abfährt. Die nahe liegenden
Gipfel würden wir auch innerhalb einer Tagestour besteigen können, und außerdem
lockte es uns, zurück in unsere schöne Ferienwohnung zu kehren, wo wir mit
Sicherheit paradiesisch schlafen würden! Wir sind sehr stolz, ein zweites Mal
„durch den Rachen“ gegangen zu sein, und unsere wunderschöne Tour zur Sulzfluh
erfüllt mich mit großer Dankbarkeit. Gipfelerlebnisse können lange und intensiv
nachwirken, Kraft und Glücksgefühle spenden. Berge lehren Achtsamkeit. Ich
würde die Sulzfluh immer wieder gern besteigen, aber nach einer solchen Tour
konnten wir nicht gleich eine weitere konditionell fordernde anhängen. Wir wohnen
nicht nahe genug an den Alpen, um mal über ein Wochenende hinzufahren, und uns
fehlt in diesem Jahr das Wander-Training. Wir haben 15,3 Kilometer zurückgelegt, 875 Höhenmeter
im Anstieg und 2.000 Höhenmeter im Abstieg.
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